Über den Richtungsstreit der Cannabis-Legalisierung, Verbotsmythen und populistische Rhetorik der Ausgrenzung
Carmen Wegge steht umringt von einen kleinen Gruppe von DemonstrantInnen neben dem Bundesparteitag der SPD in Berlin. Es ist kalt an diesem Samstag im Dezember. Sie trägt eine dicke Jacke, um ihren Hals baumelt der rote Delegiertensausweis. Wegge ist prominente Fürsprecherin der SPD für eine Legalisierung von Cannabis und hat in den letzten Tagen, Wochen und Monaten viel Kritik einstecken müssen. Für Verzögerungen, Verschiebungen und Kompromisse. Gemeinsam mit ihrem Bundestagskollegen Dirk Heidenblut hat sie auf vielen Terminen für das Cannabisgesetz der Ampel geworben. Doch auf diesem Parteitag spielt das Thema keine Rolle. Einzig Maybrit Venzke von den Jusos Schleswig-Holstein erinnert sich in ihrer Rede, wie sie vor zwei Jahren nach dem SPD-Wahlsieg im Kreis ihrer Freundinnen versprochen hat, dass „Leute, die Cannabis rauchen, nicht in die Illegalität rutschen“. Passiert ist bisher nichts und heute schämt sie sich dafür, dass ihre Freundinnen sich „belogen fühlen“.
Wer hat uns vertröstet? Sozialdemokraten!
Gelegenheiten für Scham gab es reichlich. Denn die Verabschiedung des CanG wurde endgültig von der Sitzungsplanung für 2023 gestrichen. Zum wiederholten Mal verzögert sich der Einstieg in die lang angekündigte Cannabisgesetzgebung. Gleichzeitig erreichte am 08. Dezember ein offener Brief alle Abgeordneten. Der Absender: Die Bundesärztekammer, die gemeinsam mit Polizeigewerkschaft, Lehrerverbänden sowie Kinder- und Jugendärzten vor den Folgen der Legalisierung warnt und an die „Verantwortung für unser Land“ appelliert. Es sind die gleichen Verbände, die bereits bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss ihre Bedenken und Sorgen vorgetragen haben und die nun erneut eine Debatte anstoßen wollen. Zumindest in der SPD ist dies gelungen.
Der Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Bundes der Kriminalbeamten Sebastian Fiedler hat sich zum politischen Fürsprecher eben jener Gruppen aufgeschwungen, die von der Welt als „breites Bündnis“ angekündigt werden. Entgegen vorheriger Zusagen aus dem Ministerium und der Partei, kündigte er an gegen eine Legalisierung zu stimmen. Ob Fiedlers zusätzlicher „Beratungsbedarf“ jedoch ursächlich für die erneute Terminverschiebung durch die Fraktion war, darf indes bezweifelt werden. Schuldenbremse, Haushaltspolitik und Einspaarungen in Milliardenhöhe drohen den Staat vorübergehend handlungsunfähig für die Zukunft zu machen. Viel wahrscheinlicher erscheint es, dass hier ein Abgeordneter einen opportunen Moment ausnutzt, um für sich und die Positionen seines ehemaligen Arbeitgebers Werbung zu machen.
Unterkomplexe Kriminalitätsmärchen
In altbekannter Manier tragen Fiedler und Verbündete ihre Kritikpunkte gegen eine Legalisierung vor: Gesundheitsgefahren, Jugendschutz, Schwarzmarkt, Verwaltungsaufwand, Stärkung von Prävention. Mit fragwürdigen Schlussfolgerungen aus nicht abschließend geklärten wissenschaftlichen Debatten und einem einseitigen Fokus auf Kinder und Jugendliche, werden unbelegte Behauptungen aufgewärmt, die allesamt darin münden, dass eine Legalisierung schädlicher sei als der bisher unregulierte Schwarzmarkt. Kein Wort davon, dass das Gesetz primär auf eine Entkriminalisierung von Anbau, Besitz und freien Konsumentscheidungen von Erwachsenen abzielt. Kein Wort von Studien und Argumenten, die die eigene Position widerlegen oder herausfordern. Kein Wort von den normalisierenden Effekten einer gesellschaftlichen Drogendiskussion, die auch für vulnerable Gruppen Information und Aufklärung vereinfachen.
Stattdessen gibt es unterkomplexe Kriminalitätsmärchen ohne belastbare Verweise auf andere Länder, Studien oder sonstige Belege. Es wird unkonkret auf „internationale Erfahrungen“ verwiesen und eine ominöse „Gefahr“ beschworen, dass die Nachfrage am Schwarzmarkt zunehmen werde. Auch eine Entlastung von Justiz und Polizeibehörden wollen die Unterzeichner nicht erkennen. Ob jedoch die vielen „kleinteiligen Regelungen“ des CanG zu einem „Mehraufwand“ führen, bleibt abzuwarten. Vor allem dann, wenn hunderttausende konsumnahe Verfahren in Zukunft entfallen würden.
Die Sorgen und Bedenken der Legalisierungsgegner kann man teilen, ablehnen, weiter kritisieren oder müde belächeln. An vielen Stellen wurde dies in der Vergangenheit bereits getan. Doch selbst wenn man allen Behauptungen zustimmen würde, dann wäre dies kein hinreichender Grund für ein Festhalten am Status quo. Denn trotz Aufwand für Behörden und bereits bestehender Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe, ergibt sich kein argumentativer Zwang, warum mündige Erwachsene weiter kriminalisiert werden sollten. Denn genau dies wäre die Konsequenz, wenn man dem logischen Zirkelschluss des Papiers folgt.
Widerspruch als Methode
Vermeintlich progressive Prohibitionisten wollen nicht bestrafen, aber trotzdem verbieten. Ein Modell, das in Holland krachend gescheitert ist und zusätzlich ein fragwürdiges Verständnis von Freiheit vermittelt. Toleranz für Konsum, der ja auch jetzt schon nicht strafbar ist, und erlaubter Besitz. Zumindest ein wenig. Dafür gibt es aber keine legale Lieferkette. Privater Anbau und Abgabe bleiben weiter verboten. Wer so argumentiert und gleichzeitig „radikale“ Wenden fordert, hat entweder nicht das geringste Verständnis kriminologischer Zusammenhänge oder versucht populistische Profilbildung auf dem Rücken von Minderheiten zu betreiben. Vielleicht auch beides. Und so äußert sich auch Fiedler als politischer Klassensprecher der Prohibitionsfraktion im Interview mit WELT
„Eigentlich sollte das Gesetz eine lizenzierte Abgabe von Cannabis in Fachgeschäften und die Legalisierung der gesamten Lieferketten schaffen. So hätten wir aber eine starke Kontrolle des Staates gehabt. Stattdessen steht nun der Eigenanbau zu Hause im Fokus. Wenn aber nun künftig nur ein Prozent aller deutschen Haushalte Cannabis anbaut und jeder nach aktuellem Stand 50 Gramm zu Hause hat, wären wir bei 20 Tonnen, die unkontrolliert im Markt sind.“
„Man hat die Reihenfolge leider komplett umgedreht. Man hätte erst die Modellprojekte umsetzen und beobachten sollen, was sich gesundheitspolitisch und kriminalpolitisch ändert. Stattdessen wollten aber viele in der Ampel schnelle Ergebnisse, um die im Internet laut rufenden Kiffer zu befriedigen.“
MdB Sebastian Fiedler (SPD)
Fiedler redet von einer Fantasie-Legalisierung, von der er wissen oder doch zumindest annehmen muss, dass sie wahrscheinlich niemals existieren wird. Das ist eine Scheinlösung für eine Scheinpolitik, die sich mehr dafür interessiert symbolische Gesten in die Welt zu senden, als konkrete Probleme zu lösen. Die Kritik der KonsumentInnen aus dem Internet wird hier als störendes Rauschen einer Gruppe der Anderen dargestellt, deren Äußerungen nicht als Wortmeldungen rationaler BürgerInnen beschrieben werden, sondern als suchtgetriebenes Grunzen nach Aufmerksamkeit und Triebbefriedigung.
Tricks der Ausgrenzung
- Cannabis-KonsumentInnen werden als Gruppe der Anderen definiert. Diese Anderen gehören nicht zur Normalität und müssen entsprechend markiert und abgegrenzt werden.
- Diese Anderen sind gleichzeitig schwach – da süchtig und nicht vernünftig, vielleicht auch gar nicht vernunftsfähig – und sie sind gefährlich – da kriminell und problematisch für Kinder und Jugendliche. Deshalb stellen sie ein ordnungspolitisches Problem dar, das einer Lösung bedarf. Man könnte auch sagen: sie müssen polizeilich behandelt werden, damit sichergestellt werden kann, dass keine Gefahr von ihnen droht.
- Es wird eine endgültige Lösung präsentiert: keine Strafe für Konsum, Abgabe durch den Staat. KonsumentInnen werden von mündigen BürgerInnen, die bewusste und informierte Entscheidungen treffen, zu „laut rufenden Kiffern“, also Abhängigen, auf deren Bestrafung man aus vermeintlicher Mildtätigkeit und Nächstenliebe verzichtet und für die eine zentralisierte Substanzabgabe organisiert werden sollte. Das dies weder rechtlich möglich ist, noch das Schwarzmarktproblem löst, wird allerdings zur Nebensache.
Fiedler offenbart in seinen Wortmeldungen Elemente eines obrigkeitsstaatlichen Kontrollphantasmas, was sich zudem antiaufklärerischen Tendenzen aussetzt. Konkrete Probleme einer wissenschaftsgeleiteten Drogen- und Gesundheitspolitik werden so jedoch nicht gelöst. Im Gegenteil. Lösungsvorschläge werden mit immer neuen Problemverlagerungen wegdiskutiert. Was es nach Ansicht dieser Prohibitions-Apologeten bräuchte, wäre ein allumfassender Ansatz. Ein finaler Befreiungsschlag, der alles löst und zwar für immer. So argumentieren keine pragmatischen SachpolitikerInnen, so argumentieren Demagogen.
Überwachen und Strafen
Wenn so über Cannabis gesprochen wird, findet dabei nur selten ein sachlicher Austausch statt. Diesen mag es geben, aber die breite Debatte wird von anderen AkteurInnen und Positionen überformt. Es ist eine Glaubensfrage, bei der Sorgen, Nöte und Interessen zu Fragen der Normalität, des richtigen Lebens und einem wie auch immer gearteten Wertekonsens verteidigt werden. Und es scheint fast so, als entschiede sich an der Frage der Legalisierung das Schicksal der gesamten Welt, oder doch immerhin der vermeintlich heilen Welt zwischen Bierzelt, Weihnachtsbaum und „Wetten, dass..?“. Vor diesem Hintergrund verkommt selbst der sachlichste Verweis auf Fakten zu einem Diskursrausch und es scheint gleichgültig, wie lang diese Debatte noch weitergehen wird. Denn ein vernünftiges oder gar ein richtiges Ende wird es aus der Diskussion allein nicht geben.
Umso wichtiger ist es, dass endlich eine Entscheidung getroffen wird. Und zwar nicht von wütenden Polit-Trollen oder aufmerksamkeitsheischenden EinzelpolitikerInnen, sondern von der Mehrheit des Parlaments. Das wird die Diskussion natürlich nicht beenden. Denn nur weil der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, verschwindet nicht die Kritik. Und selbst mit einer neuen Rechtslage wird die gesellschaftliche Normalisierung und Rehabilitation von ehemals Stigmatisierten und Ausgegrenzten noch viele Jahre andauern. Aber immerhin könnte mit einer neuen Grundlage weiterdiskutiert werden. Ein Grundlage, die die Lebensrealität von Millionen Menschen schlagartig verbessert und aus Kriminellen und Verdächtigen endlich vollwertige BürgerInnen macht.
Historisches Scheitern
Und so wird sich auch mit einem Cannabisgesetz die Überdeckung der eigentlichen sozialen und gesundheitlichen Fragen fortsetzen. Ganz so, wie dies seit Anbeginn der Verbotspolitik immer und immer wieder geschieht:
„Die Alternativen sind so schmerzhaft, dass man lieber an einem Politikmodell festhält, das sich einfach erklären lässt und dann behauptet, dass es ohne diese Politik noch viel schlimmer wäre. Man hält an diesen Verboten fest und tut so als würde dann die ganze Welt untergehen, wenn diese Verbote weg wären. Und alle Leute würden nur noch in der Ecke liegen und gar nichts anderes mehr machen als Drogen nehmen. De facto weiß man, dass das nicht so ist, weil es ja Länder gibt in denen es Dekriminalisierung und auch teilweise Legalisierung gibt. Das heißt, es ist faktisch nicht korrekt aber es ist immer das, was suggeriert wird.
„Drogenverbote funktionieren nicht, sondern richten Schaden an. Wenn wir das aber tun, dann müssen wir uns fragen, was denn die Ursachen für Drogenprobleme sind. Und dann kommen wir in richtig problematische Zonen. Wir müssten fragen: Was machen wir gegen häusliche Gewalt? Was machen wir gegen Traumatisierung. Warum erschießt die Polizei so viele psychisch Kranke? Und dann wird es richtig schwierig. Dann kommen lauter Sachen ans Licht, die super schmerzhaft sind und total komplizierte Antworten haben. Und dann ist es eben bequemer zu sagen: Die Droge ist doch das Problem und deswegen verbieten wir die. Und das führt dann dazu, dass diese Probleme nicht gelöst werden und es den Leuten einfach wahnsinnig schlecht geht.“
Drogenhistorikerin Helena Barop im Interview bei Jung & Naiv 05:18 und 2:27:00
Und natürlich sprechen wohlmeinende KommentatorInnen auch immer wieder vom „Leidensdruck“ der Betroffenen. Auch Carmen Wegge tut das im Gespräch mit den Demonstrierenden beim Parteitag. Doch was heißt das eigentlich? Welches Leid und welcher Druck? Der Suchtdruck der Abhängigen oder der Suchtdruck der Strafverfolgung? Prohibitionisten und andere, die die Gesellschaft und die Gesundheit rein und sauber halten wollen, grenzen immer wieder und immer noch eine vermeintliche Normalität von einer vermeintlichen Gefährdergruppe ab. Es ist eine Sehnsucht nach heiler Welt und all jene, die dieses Bild stören, müssen dafür bestraft werden. Diese Heilsromatik und Ausgrenzungslogik verweigert sich hartnäckig einer sachlichen Debatte. Ganz egal, wieviele Argumente und Belege vorgetragen werden. Denn im Kern geht es nicht um Drogenfragen. Es geht um Weltanschauungsfragen. Und darum, vermeintlich einfache Lösungen zu präsentieren, damit man sich nicht mit komplizierten Problemen befassen muss.
Die DrogenpolitikerInnen in der SPD und die Parteiführung haben es nicht geschafft, die Reihen zu schließen. Auf der anderen Seite geben die Partei und auch die Regierungsspitze mit Kanzler Scholz genügend Futter und Angriffsfläche für einzelne Quertreiber. Die Partei und auch die Koalition müssen sich fragen lassen, ob sie das Legalisierungsprojekt auf dem Altar der Symbolpolitik opfern möchten. Und ob sie den vielen bisherigen Kompromissen noch weitere hinzufügen. Auch gegen die konkreten Interessen von Betroffenen und gegen die Warnungen von ExpertInnen. Oder ob sie wenigstens einmal ihre eigenen Versprechungen ernst nehmen.
Bildquellen
- Foto einer Demoszene 2019: Foto von Jonathan Kemper auf Unsplash
- Foto von Carmen Wegge: Foto von Fionn Grosse
- Foto von Sebastian Fiedler, MdB: Foto von Fotothek, SPD Bundestagsfraktion
- Foto von Polizist mit Helm und Schlagstock: Foto von Jeannette1980 auf Pixabay
- Foto einer Überwachungskamera: Foto von Victor auf Unsplash
- Foto von Zapfhahn mit Händen: Foto von Yosuke Ota auf Unsplash
- Foto einer archäologischen Ausgrabungsstätte: Foto von Hulki Okan Tabak auf Unsplash
- Foto des Deutschen Bundestags: Foto von Rasmus Gundorff Sæderup auf Unsplash
- Grafik von Handschellen: Grafik von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay